Es ist Freitagnachmittag Mitte Oktober und für viele von uns neigt sich eine anstrengende Arbeitswoche dem Ende zu. Zu allem Überfluss ist um 16:30 Uhr auch noch Stau in Hamburg und das Rauskommen sowohl aus dem Alltag, wie auch aus der Stadt, ist sehr schwer. Endlich auf der Autobahn und später auf der Landstraße ziehen die farbenprächtigen Herbstbäume an uns vorbei und die Gespräche im Auto werden immer spannender und neugieriger. Haben wir Badeklamotten dabei? Welche Lieder werden wir proben? Wie wird die Herberge sein? Wer ist alles dabei und was machen wir in der freien Zeit? Wie waren vergangene Freizeiten – auch in anderen Chören – und wie werden sich „Neue“ und „Alteingesessene“ verstehen?
Langsam werden die Gespräche ruhiger und der Blick aus dem Fenster immer beeindruckender. Die Sonne steht tief, die Felder leuchten golden und der Oktober tut seinem Namen alle Ehre. Wir sehen verschiedene Seen und fragen uns schon, ob die vorbeiziehenden Häuser unsere Herberge für die nächsten zwei Tage sein könnten. Endlich angekommen sehen wir bekannte Gesichter und parken in einer schmalen schrägen Gasse mit wunderschönen historischen kleinen Häusern.
Drinnen werden wir von Juliane und Fabian empfangen. Wir bekommen unsere Schlüsselkarten und schaffen es kaum in die Zimmer, da wir immer wieder strahlenden und bekannten Gesichtern begegnen und uns über die Fahrt austauschen. Beim Betreten des Zimmers kommen wir aus dem Staunen nicht mehr raus. Der See ist in seiner vollen Pracht direkt vor unserem Fenster! Welch eine himmlische Aussicht auf das gesamte Wochenende.
Um 18 Uhr ist offizieller Beginn beim Abendessen. Wir werden herzlich begrüßt und freuen uns draußen mit leckerem frischen Essen zu sitzen. Der See und die untergehende Sonne dahinter sind eine beeindruckende Kulisse. Die Gesichter der Mitsänger sind entspannt, zufrieden und herzlich, und es wird tiiiiiieeef eingeatmet. Beim Essen wird so lange geklönt, dass wir danach nahtlos in die erste Probe übergehen können.
Johanna und Annemarie heißen uns gemeinsam Willkommen und stellen uns den Plan für das Wochenende vor. Nach einem erfrischenden und stressabschüttelnden Einsingen fangen wir zur Einstimmung mit einer ruhigen und dynamischen Variante von „Masithi Amen“ an und schauen dabei auch von unserem Probenraum raus auf den See. Das Gefühl beim Singen ist unbeschreiblich schön und der Blick in die Runde zeigt viele träumende Gesichter. Der Abend geht mit Proben und einer kurzen Pause weiter. Wir wiederholen die gelernten Stücke der letzten Wochen und arbeiten etwas mehr an „Man in the Mirror“ von Michael Jackson. Nach dieser bereichernden Probe fängt ein sehr gemütlicher später Abend an. Es wird auf das Zusammensein angestoßen, Geschichten werden erzählt, ein Austausch über Gott und die Welt startet und es wird von Ratzeburg geschwärmt. Von Drinnen hören wir Gitarren und es bildet sich ein kleiner Kreis mit vielen Liederbüchern. Als ich mich dazusetze, werde ich herzlich empfangen und die Stimmung ist spaßig. Von „Aber bitte mit Sahne“ über „Sunny“ und „Mad World“ bis hin zu „Wind of Change“ wird alles gesungen. Boris packt seine Mundharmonika immer wieder aus, Michael und Jörgen liefern sich grandiose Gitarrenduette und hier und da wird innbrünstig mit Percussion und Stimme improvisiert. Es wird geklatscht, getrommelt, genascht, geschnipst, gelacht, getanzt,…..
Nach einer kurzen Nacht treffen wir uns am nächsten Tag beim Frühstück wieder. Ein paar von uns waren schon todesmutig im kalten Herbstsee baden und irgendwie sehen sie auch frischer aus als wir. Als ich mit Bedauern erzähle, dass ich dachte, Badesachen seien überflüssig und deswegen keine eingepackt habe, höre ich nur, dass das gemeinsame Baden im kühlen Nass schon zu einer kleinen „Chortradition“ von vielen geworden ist – schließlich stand dieser Tipp ja auch auf dem Infozettel. Nach ausreichend Kaffee und Brötchen treffen wir uns zur ersten von drei Proben wieder. Neben dem Mann im Spiegel üben wir auch noch einmal die Lieder für den morgigen Gottesdienst im Ratzeburger Dom. Johanna und Annemarie teilen sich die Probe und als Annemarie zu den Soloproben verschwindet, wird eine heimliche Geburtstagskarte für sie rumgereicht. Als die Soloprobe vorbei ist, sind alle gespannt, wie die Lücken in „Man in the Mirror“ mit tollen Stimmen gefüllt werden. Doch auf einmal kommt die choreigene „Putzkolonne“. Vier Damen mit tollen Kostümen und Putzmaterialien kommen reingestürmt und putzen in alter Chorfreizeittradition nicht nur das Mobiliar… Hier und dort wird eine Stimme geölt, ein Kratzer im Hals poliert und ein Lächeln auf wirklich alle (auch verschlafene) Gesichter gezaubert. Und danach gehts heiter weiter mit dem Singen!
Nach dem Mittag gibt es eine kleine Mittagspause. Sie wird genutzt um spazieren zu gehen, den Ort zu erkunden, sich in den See zu trauen, eine Siesta zu halten, süße Babys zu stillen, Body-Percussion-Kanons zu üben und den Liebsten mit Postkarten, Bildern und Worten einen Gruß zu senden. Am Anfang der zweiten Probe verabschieden wir nach fast 3 Monaten Vertretung unsere Annemarie, die uns so herzlich und so strahlend durch Johannas Babypause begleitet hat. Man sieht, dass es auch Annemarie nicht leicht fällt und die dankbaren, persönlichen und herzlichen Worte, die Johanna an sie richtet, stehen unter Rührung und strahlenden Tränen bei allen.
Die Nachmittagsprobe bietet viel Abwechslung. Wir üben etwas mehr und intensiver „Joyful Joyful“ und zeigen Johanna wie weit wir schon „Open the Eyes of my Heart, Lord“ geübt haben, ebenfalls ein ganz zauberhaftes herzöffnendes Lied. Außerdem lernen wir ein weiteres afrikanisches Lied. Der Clou daran ist der „Klicklaut“ aus der Sprache Zulu. Da muss man nämlich mitten im Wort mit der Zunge schnalzen. Das Lied heißt „Uyingcwele Baba“ und bringt uns auch nochmal in andere Bewegungen als sonst. Auch einen erfrischenden Teil des Klassikers „Higher and Higher“ lernen wir in einer besonderen Version.
Nach frischer Seeluft und dem Abendessen geht es in die Dritte und für heut letzte Runde. Johanna geht mit bestem Beispiel voraus und fordert unsere Konzentration. Einige werden gegen Ende der Probe tatsächlich etwas kaputt, doch wir sind froh, dass wir endlich die vielen „chaaaanges“ aus „Man in the Mirror“ auseinanderhalten können. Was für ein Erfolgserlebnis! Auch der Text des Liedes (Wenn du diese Welt zu einem besseren Ort machen möchtest, fang doch mit der Person an, die du im Spiegel siehst) beflügelt uns jedes Mal aufs Neue und gibt auch mir persönlich immer wieder neue Denkansätze und Energie.
Der Abend ist eingeläutet, die Häuser an den Seeufern leuchten und die Musik erklingt erneut in kleiner Runde. Hier und dort wird sich etwas getraut oder einfach aus vollem Herzen mitgesungen. Wir hören ein tolles Lied zum Jodeln lernen und neben den Gitarren werden heute Ukulelen mit viel Stimmung zum Klingen gebracht. Wir lernen diesmal nicht nur den Rhythmus-Kanon sondern auch die Body-Percussion-Begleitung zu dem Lied „Bring me little water Sylvie“, das lange nicht gesungen wurde, aber an die letzte Chorreise nach Lissabon erinnert.
Am nächsten Morgen wird sich in aller Frühe schick gemacht und es geht auf Wanderschaft Richtung Ratzeburger Dom. Die Chorpodeste werden aufgebaut und das Einsingen startet im prachtvollen Altarraum des Doms. Der Pastor begrüßt uns freundlich und kurz vor Gottesdienstbeginn bilden wir unseren traditionellen Kreis und werden uns darüber bewusst, wie schön es ist gerade jetzt genau hier an diesem Ort zu sein mit all den lieben Menschen um uns herum. Wir fliegen regelrecht durch den Gottesdienst mit einem sehr herzlichen und lockerem Pastor, der eine sehr rührende Taufe abhält. Ein paar Tränchen fließen und bei unserem letzten Lied „Shadowland“ kann man eine wahnsinnige Gemeinschaft und Freude spüren. So sehr, dass ich vor Rührung und Freude schlucken muss statt zu singen.
Gemeinsam gehts zurück in die Herberge zum letzten stärkenden Mahl, bevor wir den Heimweg antreten. Johanna und auch der Chor bedanken sich für das unbeschreiblich schöne Chorwochenende. Ein besonders riesiges Dankeschön geht an Johannas Mann Jakob und ihre Mutter Solveig, die Johanna den Rücken frei gehalten haben und sich liebevoll um die gemeinsame kleine Tochter gekümmert haben. Klara ist mit ihren 3 Monaten schon ein festes Mitglied im Chor – mal sehen, welche Stimme sie später singt. Auch viele andere, die man namentlich gar nicht alle erwähnen kann, bekommen ein großes Dankeschön für die Organisation rund um die Freizeit.
Nach der schönen Abendsession vom Vortag hat Johanna die Idee, das Lied aus Lissabon zum gemeinsamen Abschluss zu singen. Wir holen die Herbergsväter und -mütter und singen ihnen dieses Lied auch als Dankeschön für ihre Gastfreundschaft. Schon wieder so ein „Schluckmoment“. Am Ende machen wir einen großen Abschiedskreis in dem jeder jeden nochmal auf seine Weise verabschiedet, es wird sich viel geknuddelt und liebevoll gedrückt. Keiner mag danach so richtig losfahren und alle stehen noch am Steg und auf den Terrassen der Herberge. Einige verlängern den Aufenthalt in diesem malerischen Ort und holen ihre Familien zu sich oder wagen einen letzten Sprung in den See. Der Blick geht noch einmal Richtung Sonne, die uns das ganze Wochenende mit spätsommerlicher Kraft die Haut wärmend gestreichelt hat. Wir fahren langsam los, führen tolle Gespräche auf der Heimfahrt und zu Hause bin ich erst einmal leer, doch noch sehr, sehr lange ganz beseelt von diesem unvergesslichen Wochenende….
Text: Rebekka Gol
Fotos: Jasmin Mayer, Dieter Brendel